La Marmotte 2014 – Pourquoi faire …

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Freitag, 4. Juli: Ich bin in Les 2 Alpes. Im Paradies für Freerider, Enduristen und Downhiller. Mit einem Federweg von 180 mm lässt man sich dort noch nicht mal in der Eisdiele blicken. Für mich ist es jedoch eher ein historischer Ort in der Geschichte des Radsports. Tour de France 1998: Marco Pantani deklassiert das komplette Fahrerfeld bei der Königsetappe hinauf nach Les 2 Alpes und gewinnt schließlich als reiner Bergfahrer im gleichen Jahr nach dem Giro d´Italia auch die Tour.

Ich starre an die Decke des Appartements und schwelge in den Erinnerungen an Pantanis glorreichen Sieg. Dabei schwirrt jedoch auch ein anderer Geist durch meinen Kopf. Das Schreckgespenst „La Marmotte“. Gebetsmühlenartig rufe ich mir immer wieder die Namen der Anstiege ins Gedächtnis, die es zu bewältigen gilt:

Col du Glandon, Col du Telegraphe, Col du Galibier, Alpe d´Huez! 174 km, 5.000 hm!

 

Doch ich lass mich nicht aus der Ruhe bringen. Schließlich bin ich gut vorbereitet und auch die passable Zeit bei Les 3 Ballons gibt mir das nötige Selbstvertrauen. Ich drehe mich auf die Seite und schlafe ein.

5:30 Uhr! Der Wecker klingelt und reißt mich unliebsam aus dem Schlaf. Schnell schiebe ich ein paar Aufbackbrötchen in den Backofen und schlürfe meinen Kaffee runter. Die innere Ruhe des Vortages scheint sich jedoch über Nacht in Luft aufgelöst zu haben. Ich bin mal wieder Dauergast auf dem Klo. Als Frostbeule fällt zudem die Kleiderwahl diesmal sehr umfassend aus:

Trikot, Hose, Windstopper Unterhemd, Windweste, Regenjacke, Armlinge, Beinlinge, kurze Handschuhe, lange Handschuhe und Mütze

Ich packe meine Sachen ins Auto und fahre Richtung Bourg d´Oisans. Glücklicherweise hatte ich am Vortag schon Ausschau nach potentiellen Parkmöglichkeiten gehalten. Ich habe Glück. Denn auf der Autofahrt sind zahlreiche Autos hinter mir und auch auf dem Parkplatz ist genau noch 1 Platz für mich frei. Ich hole meinen Renner aus dem Kofferraum, checke den Luftdruck der Reifen, verstaue meine Sachen in den Trikottaschen und rolle zum Start. Schaffe ich mein Ziel unter 9 Stunden zu bleiben?

Aufgrund meiner hohen Startnummer muss ich mich hinten einreihen. Die Temperaturen sind angenehmer als gedacht. Ich schaue mich um. Aus der Menge entnehme ich die unterschiedlichsten Sprachen: französisch, englisch, dänisch, holländisch und italienisch

Wieder mal ist ein Flitzer teurer als der andere. Hobbysportler, die zumeist besseres Material haben als so manch ein Profi.

7:50! Endlich Start! Allerdings dauert es noch ein paar Minuten bis auch ich über die Startlinie rolle. Um 7:58 vernehme ich den Piepton meines Transponders.

Die ersten Kilometer verlaufen bis Rochetaillee einigermaßen flach. Ich fahre mich zügig ein, bringe meinen Puls auf Touren, ohne dabei zu überdrehen. Die nächsten 4 km geht es hinauf bis Allemont. Die Gegend ist bewaldet. Es ist schwül warm. Der Stausee und der Fluss am Straßenrand sorgen für hohe Luftfeuchtigkeit. Mein Puls schießt abrupt nach oben. Ich komme mir vor wie im Dampfbad. Der Schweiß steht in meinen Klamotten. Das Atmen fällt mir schwer. Die feuchte Luft raubt mir einige Körner. Ich finde keinen Rhythmus.

Endlich! Nach ca. 8 km lässt die Feuchtigkeit nach. Doch gerade hatte ich mich über die Klimaänderung gefreut, kam die böse Überraschung. Statt einem kontinuierlichen Anstieg, habe ich eine Serpentinenabfahrt vor mir, um schließlich vor einer Wand zu stehen. Die nächsten 2 km fällt die Steigung nicht mehr unter 12%. Eine Tatsache, die mich jedoch beflügelt. Endlich kann ich als Kletterer meine Trumpfkarte spielen. Sie sticht gnadenlos und ich kämpfe mich nach vorne. Es geht vorbei an einem weiteren Staussee, der türkis leuchtet. Die Steigung wird für meine Verhältnisse moderat und ich fliege ohne weitere Probleme den Berg hinauf. An der Verpflegungsstation auf der Passhöhe herrscht wildes Treiben. Aufgrund der Wetterlage ist vom Mont Blanc jedoch leider nichts zu sehen. Das Gedränge ist so dicht, daß man vom Rad steigen muss. Ich fülle meine Flaschen auf und stürze mich in die Abfahrt, die es in sich hat.

Auf einem kleinen, engen Sträßchen geht es serpentinenartig hinab bis St. Jean de Maurienne. Die Leistung der Bremsen ist im Grenzbereich. Meine Handballen schmerzen. Viele Teilnehmer haben mit Materialschäden zu kämpfen und stehen am Straßenrand. Glücklicherweise hatte ich kurz vor dem Rennen noch neue Reifen und Schläuche montiert und eingefahren. Andere lassen es wiederrum ordentlich krachen und ich verliere an Boden.

Die nächsten Kilometer verlaufen flach durch´s Mauriennetal. Definitiv kein Grund, um den Blick umherschweifen zu lassen. Ich lege meine Unterarme auf den Lenker und rase in Zeitfahrmanier in Richtung St. Michel de Maurienne. Wider Erwarten mache ich sogar in der Ebene zahlreiche Plätze gut. Eine Gruppe fährt auf mich auf und ich entscheide mich dazu, mich ganz hinten einzureihen. Ich gehe auf Sicherheitsabstand, um im Notfall reagieren zu können. Ich halte kurz an der Verpflegung, fülle meine Flaschen auf und ziehe meine Arm- und Beinlinge aus.

Ich erreiche den Fuß des Col du Telegraphe. Der bewaldete Anstieg fordert mich jedoch nicht. Lediglich die immer wieder fehlende Asphaltdecke zehrt an den Nerven. Trotzdem kurble ich leichtfüßig den Pass hinauf, passiere unzählige Teilnehmer und erreiche nach einer kurzen Abfahrt in Valloire den Fuß des Col du Galibier. Viele Radsportfans bekommen weiche Knie, wenn man allein den Namen ausspricht. Wieder erinnere ich mich an die Tour de France. Diesmal an ein Interview mit dem ehemaligen Spitzensprinter Robbie MC Ewen: „Ich hasse den Galibier.“ Nicht gerade motivationsfördernd. Ich genehmige mir ein paar Bissen an der Verpflegungsstelle und wage mich voller Erfurcht in den Anstieg.

Die ersten 10 km sind für mich bei einer durchschnittlichen Steigung von 6% eher flach. Die Landschaft ist karg, umgeben von imposanten Gipfeln. Viele mögen das attraktiv finden, doch meiner Meinung nach gibt es eindeutig schönere Alpenpässe dieser Kategorie. Vielleicht liegt es aber auch an meinem körperlichen Empfinden, daß ich die wahre Schönheit des Passes nicht wahrnehmen kann. Ich habe Rückenschmerzen. Die Beine brennen. Die Steigungswerte liegen über 10%. Das Pedalieren fällt mir schwer. Nichts, was mich irgendwie motiviert. Warum tue ich mir die Scheiße überhaupt an wimmele ich in mehreren Landesprachen vor mich hin. Why do I do this fucking shit? Pourquoi faire une telle merde comme ceci? Trotz allem mache ich jedoch einige Plätze gut

Ich beginne zu singen, um mich selbst zu motivieren: Stromae – Formidable und Indila – SOS

Im Rhythmus der Lieder kämpfe ich mich bergauf. Es ist kalt. Endlich erreiche ich den Tunnel kurz vorm Gipfel. Bilder der Tour de France 2011 schießen mir durch den Kopf. Ich sehe Thomas Voeckler im Maillot Jaune wie er vorm Gipfel voller Wut seine Trinkflasche auf den Boden feuert. Noch 3 Kehren und ich habe es geschafft. Blind vor Gier greife ich an der Verpflegung wahllos zu und ziehe alles an Klamotten an, was ich einstecken habe. Die Kälte macht mich zittrig. Mir graut vor der Abfahrt. Schließlich sind es mehr als 40 km bis Bourg d´Oisans.

Die ersten 8 km bis zum Col du Lautaret gehe ich sehr vorsichtig an. Ich muss einige Plätze hergeben. Die Länge der Abfahrt geht an die Substanz. Der Körper beginnt in der Unterlenkerposition zu verkrampfen. Es wird jedoch zunehmend wärmer. Wieder beginne ich zu singen.

Diesmal Black M – Sur ma route

Die Abfahrt fällt mir somit zunehmend leichter, so daß ich die Möglichkeit habe, die Gedanken abschweifen zu lassen. Was mache ich nur mit all meinen Klamotten? Schließlich brauche ich die aufgrund der Wetterlage kurz vor dem Schlußanstieg nicht mehr; nur unnötiger Ballast. Zufällig liegt der Parkplatz direkt an der Rennstrecke. Ich entscheide mich, einen kurzen Zwischenstopp einzulegen und werfe alles ins Auto. Ich genehmige mir noch einen kurzen Bissen und mache mich auf nach Bourg d´Oisans.

Den letzten Anstieg vor Augen. La grande finale. Der künstlich geschaffene Mythos. Der Anstieg, an dem Helden geboren werden. Das Mekka des Radsports. Die Bergankunft aller Bergankünfte. Der Berg der Holländer. 21 Kehren, geziert mit den Etappensiegern der Tour de France.

Alpe d´Huez!

Eine besondere Stimmung liegt in der Luft. Tour de France 1997: Ich sehe Virenque im Maillot de la Montagne und Ulle im Maillot Jaune. Doch fehlt da nicht ein Puzzleteil? Hat jemand die Etappe manipuliert?

Ich verschwende keine weiteren Gedanken und nehme den Anstieg in Angriff. Es läuft wider Erwarten sehr gut. Es ist warm. Temperaturen, die mir sehr entgegenkommen. Im Nu passiere ich die ersten Kehren. Trotz der Tatsache, daß ich unzählige Plätze gut mache, fühle ich mich irgendwie gehemmt. Ich fahre mit gezogener Handbremse. Der Anstieg ist gewiss keine Augenweide, der zum Genießen einlädt. Betongraue Bettenburgen durchziehen die Landschaft. Immer wieder versuche ich an jeder Kehre einen Blick auf die Schilder mit den Namen der Etappensieger zu erhaschen.

Virage 3: Wieder schweift mein Blick das Schild. Erneut habe ich die heldenhafte Etappe der Tour 1997 vor Augen. Endlich! Das fehlende Puzzleteil. Glatze (wie ich), abstehende Ohren, blaues Mercatone Uno Trikot, rotes Lenkerband, gelber Wilier Rahmen. Lui e con me! Il Pirata! Er ruft mir zu: „Rapidamente amico!“

Nun kenne ich keinen Halt mehr. Die Blockade im Kopf löst sich. Wie von der Tarantel gestochen rase ich trotz Krämpfen gen Ziel. Der Tacho zeigt trotz Steigung nicht mehr unter 17 km/h. Noch 1 km. Das Laktat sprießt in die Oberschenkel. Scheiß drauf! Pain is temporary! Glory is forever! Im Ziel lasse ich meinen Emotionen freien Lauf. Mein Zielschrei übertönt das Getümmel. Ich steige vom Rad. Es fällt mir schwer, mich zu bewegen. Ich setze mich und ringe nach Fassung. Ich bin völlig überwältigt. Meine Sonnenbrille verbirgt die feuchten Augen.

La Marmotte: 174 km und 5.000 hm

Mein Garmin zeigt 8 h 45 min

 

Bleibt nun die Antwort auf die Frage: Pourquoi faire une telle merde comme ceci?

Die Ortschaften sind gerade in Italien gewiss schöner. Es ist die Landschaft, die Länge und Höhe der Anstiege sowie der Mythos der Tour de France, die einen zu Höchstleistungen antreiben. Hierbei sollte ich erwähnen, daß ich nicht nur für die Marmotte in Frankreich war. Es wäre reine Verschwendung die 800 km Anreise und die in Summe 100 Euro für Mautgebühren nur für das Rennen in Kauf zu nehmen. Die Gegend bietet eine Armada an Pässen, die es lohnt unter die Räder genommen zu werden. Jeder einzelne hat seinen Reiz.